Einer für Alle, Alle für Einen!
Einwanderungs- und Integrationsprozesse zwischen Kunst, Wissenschaft und Öffentlichkeit: das Göttinger Stadtlabor
von Denise Simone Walter, 19.08.2019
Das Stadtlabor Göttingen, das sich in den ehemaligen Räumen der Kranich-Apotheke im Schildweg 1 finden lässt, feierte am 06.06.2019 eine gelungene und gut besuchte Auftaktveranstaltung.
Das Stadtlabor von innen. Bild: Leon-Fabian Caspari
Die Veranstaltungsreihe „Stadtlabor: Migration bewegt Göttingen“ wird bis März 2020 durch verschiedene Projekte und Forschungsbeiträge der InitiatorInnen gestaltet. Zu diesen gehören das Zentrum für Globale Migrationsstudien (CeMig), die Georg- August-Universität Göttingen, das Literarische Zentrum, das Museum Friedland und das boat people projekt. Dr. Jelka Günther, Stadtlaborkoordinatorin, erzählt über das Stadtlabor und seine Möglichkeiten: „Das Stadtlabor eröffnet einen Raum des Austauschs und der Vernetzung, in dem neue Perspektiven auf die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft in Städten und Kommunen denkbar und geschaffen werden können.“ Auch Luise Rist, Theater- und Romanautorin sowie Mitbegründerin des boat people projekt, beschreibt das Stadtlabor als einen Treffpunkt, an dem man sich willkommen fühlt. Sie schätzt die Offenheit und die großartigen Vernetzungen, die einem dort begegnen und möglich werden. „Das Stadtlabor bietet die Möglichkeit, ein neues Forum zu schaffen, Vernetzungen und neue Freundschaften im Raum Göttingen zu stärken“, so Luise Rist.
Während 2013 etwa 18,5 Prozent der Göttinger Stadtbevölkerung einen Migrationshintergrund hatte, ist die Prozentzahl 2018 auf 27,3 Prozent angestiegen. Göttingen ist seit langer Zeit eine durch verschiedene Migrationsbewegungen geprägte Stadt, die ihren Status als Migrationsstadt nun nicht mehr leugnen kann. Allerdings werden diese in der Öffentlichkeit zumeist negativ dargestellt und ihre Spuren werden bis heute in der Stadt marginalisiert und an den Rand verbannt. Das Stadtlabor möchte dem entgegenwirken, indem es Migration zum einen als intrinsischen Entwicklungsfaktor von Stadtentwicklung begreift und zum anderen möchte es eingefahrene Deutungsmuster der politischen Öffentlichkeit, die Migration vor allem als Problem interpretieren, aufbrechen. Sabine Hess, eine der beteiligten Migrationsforscherinnen der Universität Göttingen erklärt: „Entgegen der gängigen Darstellung wollen wir MigrantInnen als tatkräftige Akteure ernst nehmen, die schon viel gemeistert haben, um hierher zu kommen und hier ein Leben neu aufzubauen. Diesen Protagonismus der Migration wollen wir zur Sprache bringen.“ Dabei stehen vor allem die Sichtbarmachung der Spuren der Migration in Göttingen und das Aufzeigen von lokalen, kommunalen und individuellen Migrationsgeschichten im Vordergrund der wissenschaftlichen, künstlerischen und musealen Auseinandersetzung im Stadtlabor.
Stadtlabor als Ort des Dialogs und Wissenstransfers
Die 160 Quadratmeter umfassenden Räumlichkeiten des Stadtlabors werden als Veranstaltungsort für die verschiedenen Ausstellungen, Workshops und Forschungsbeiträge der Veranstaltungsreihe genutzt. Vom 29.07 bis zum 22.08.2019 wurde die Ausstellung „yallah?! über die Balkanroute“ ausgestellt, die sich der Aufarbeitung des langen Sommers der Migration 2015 widmet und viele BesucherInnen tief berührte. Vom 04.09 bis zum 04.10.2019 wird die Ausstellung des Integrationsprojektes „Mein neues Zuhause“ des Fotografen Arasch Zandieh im Stadtlabor zu sehen sein. Weitere interessante Workshops und Veranstaltungen, an denen die BesucherInnen des Stadtlabors teilnehmen können, sind unter anderem das Projekt „Video-letter Projekt“ des freiraum_Museum Friedland, der Workshop „Unternehmen Postmigration: Ökonomische Einblicke in die aktuelle Stadtgesellschaft“, die Veranstaltung „Göttinger Orte – Eine Live-Schreib-Performace“ des boat people projekt sowie die Lesung „Frauen im Gespräch über Flucht und Ankommen“ mit dem Kollektiv Polylog.
Die Räumlichkeiten des Stadtlabors dienen überdies auch als Begegnungsstätte von WissenschaftlerInnen und der engagierten Öffentlichkeit. Ziel und Zweck des Stadtlabor- Projektes ist es, mit interessierten BürgerInnen, Studierenden, WissenschaftlerInnen und zivilgesellschaftlichen Initiativen der Stadtgesellschaft in einen Dialog zu treten. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erhoffen sich mithilfe eines solchen Dialoges, aus Forschungen gewonnene Erkenntnisse über Städte direkt in die Stadt tragen zu können. Zudem sollen Diskussionen und Gespräche über die Frage nach kommunalen Erfahrungen und Ressourcen angeregt werden. Durch das Finden einer gemeinsamen Sprache werde es möglich, Barrieren zwischen migrantischen Initiativen und der Stadtgesellschaft zu überwinden, erklärt Leon-Fabian Caspari, studentische Hilfskraft des Stadtlabors und des CeMig. Das Stadtlabor versuche von europäischen Abschottungspolitiken und eingefahrenen negativen bis rechtspopulistisch gefärbten Diskursen Abstand zu nehmen und ein neues Format von öffentlichem Wissenstransfer zu erproben, so auch die Koordinatorin Jelka Günther. Es bietet also einen Raum, in dem Einwanderungs- und Integrationsprozesse praxisnah und lösungsorientiert fokussiert werden und öffentlich-politische Debatten rund um Migration und Flucht, Ausgrenzung und Einwanderung sowie die Zukunft und Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft auf kommunaler Ebene diskutiert werden können.
Fragen, die das Stadtlabor bearbeitet und an die breite Öffentlichkeit stellt, sind beispielsweise: „Was macht eine Stadt für Alle aus und wie lässt sich diese gestalten?“ und: „Wie kann sich eine Stadt durch Vernetzung verändern?“ Jelka Günther hat ihre Antwort auf die Fragen bereits gefunden: „Eine Stadt für Alle ist für mich eine Stadt, in der allen Menschen unabhängig von Herkunftsgeschichten und Identifikation die Zugehörigkeit, Beteiligung und Entfaltung mit und in der Stadtgesellschaft ermöglicht wird.“