„Göttingen, die Stadt die vorübergehend Wissen schafft“.
Eine Reportage auf den Spuren migrantischer Jugendlicher in Göttingen
von Eleonora Roncato, 19.08.2019
“Göttingen, die Stadt, die Wissen schafft“. Das ist das erste Schild, das man sieht, wenn man am Göttinger Hauptbahnhof ankommt. Ein pfiffiges Wortspiel, das den Stolz der Stadt wiederspiegelt.
Auch Mattia hat dieses Schild an seinem ersten Tag in Deutschland gesehen. Er ist 24 Jahre alt, kommt aus Trent, Norditalien und ist im September 2018 im Rahmen des Erasmus Programmes in Göttingen angekommen. Doch auch wenn alles gut geklappt hat in Göttingen mit dem Studium und der Wohnungssuche, antwortet er auf die Frage, ob er in Göttingen bleiben würde, ohne lange zu überlegen: „Ne, niemals! Ich meine, Göttingen ist wie ein Hafen: viele kommen und viele gehen. Ich meine, die Uni ist ganz gut, aber ohne sie würde die Stadt nicht existieren!“.
Auch Gianluca kommt aus Italien und wohnt seit einem knappen Jahr in Göttingen. Er arbeitet im Rahmen einer Promotion am Internationalen Biologiezentrum der Universität. Ihm erscheint das Internationale Zentrum allerdings nicht sonderlich international, da fast nur auf Deutsch gesprochen wird und er somit oft aus Gesprächen und Arbeitsprozessen ausgeschlossen ist. Gianluca möchte gerne in Göttingen bleiben. Die andauernden Probleme mit der deutschen Universitäts-Bürokratie demotivieren ihn aber in seinem Entschluss nachhaltig, so dass auch er sich überlegt, wieder zurückzukehren.
Göttingen international?
Die Universität spielt tatsächlich eine sehr relevante Rolle für die Bevölkerungsentwicklung der Stadt: Dank ihrer ProfessorInnen steht die Georg-August-Universität auf Platz 101 der besten deutschen Universitäten. Die Anzahl der Studierenden betrug 29.927 im Sommersemester 20172, was in etwa 22 % der Bevölkerung (134.824)3 entspricht. Die Anzahl der internationalen Studierenden beträgt dabei 12,5 %4 der gesamten Studierendenschaft, also knapp jeder achte Studierende kommt von woanders her. Das ist keine unerhebliche Zahl. Darüber hinaus stellen die bildungsausländischen Studierenden (3.281)5 den größten Anteil der internationalen Studierenden dar. Doch was steckt hinter diesen Zahlen an Geschichten von Mobilität und Einwanderung allein von Studierenden und WissenschaftlerInnen, die ihre Heimat verlassen und nach Göttingen ziehen? In den gängigen Debatten um Zuwanderung und Migration bleiben die internationale Studierende unbeachtet, obwohl die Bildungsmigration mittlerweile einen Anteil von mehr als 17% am allgemeinen Migrationsaufkommen hat.6 Und welche Erfahrungen machen die
„Bildungsmigranten“ mit Göttingen? Dabei zeigt sich noch ein weiterer Fakt, der in der allgemeinen Einwanderungsdebatte oftmals unter den Teppich gekehrt wird: So geht es häufig gar nicht um dauerhafte Einwanderung, sondern vielmehr aus verschiedenen Gründen um zeitlich befristete Aufenthalte, um teils erzwungene Mobilität – Göttingen als Transit-Ort.
Göttingen in Zahlen. Positives Bevölkerungssaldo dank der Migration.
Wenn man einen Blick auf die Bevölkerungsstruktur Göttingens wirft, kann man sofort erkennen, wie beachtenswert der Wanderungssaldo ist. Die Statistiken zeigen, dass im Jahr 2017 12.875 Menschen nach Göttingen hinzuzogen.7 1.231 weniger als in dem vorherigen Jahr. Dabei entspricht der „Ausländeranteil“ nur ca. 35 % der gesamten Zuzüge. Zudem zeigt sich, dass die meisten Einwanderer in der deutschen Universitätsstadt zwischen 18 und 30 Jahre alt sind.8 Das gleiche Altersbild zeigt sich bei den Fortzügen, auch diese betreffen überwiegend junge Menschen zwischen 25 und 45 Jahren.9
Laut der Statistiken sind in Göttingen temporäre Studierende, Minderjährige und Senioren als demographische Gruppe am häufigsten vertreten. D.h., Göttingen hat einen Mangel an 30- bis 65- Jährigen, deren Anzahl jedes Jahr abnimmt. 10 Das erklärt sich aus der Geburten- und Sterberate sowie aus der Zahl der Fortzüge : laut der GÖSIS lag der „Geburten-Sterbeüberschuss“ 2016 bei 134 Menschen, während der Unterschied zwischen Zu- und Fortzügen 1.220 entsprach.11 Das heißt, dass weniger Kinder in Göttingen geboren werden, die Bewohner werden immer älter und dafür kommen viele junge Menschen aus der ganzen Welt nach Göttingen. Diese verlassen dann die Universitätsstadt, um einen interessanteren Zielort mit mehr Input zu finden.
Nichtsdestotrotz kann die Stadt Göttingen ein positives Bevölkerungssaldo verzeichnen: Dabei lässt sich beobachten, dass die ausländischen Fort- und Zuzüge prozentual ein vielfaches der Binnenzuwanderung ausmachen. Allerdings zeigt sich auch, dass das positive Wanderungssaldo viel niedriger als in den Vorjahren ist, d.h., immer weniger Menschen, ob in Deutschland geborenen oder als „Ausländer“ kategorisiert, bleiben in Göttingen. Das Göttingen Statistik Journal weiß um diesen Zusammenhang: „Vor allem die Zuzüge von AusländerInnen, (+1.114), verhelfen Göttingen zu einem positiven Bevölkerungssaldo. Die meisten Zuzüge verzeichnet Göttingen aus Asien (v.a. China, Indien) und dem Nahen und Mittleren Osten. Die deutsche Bevölkerung weist dagegen ein negatives Zuzugssaldo (-405) aus.”12
Wer wird in Göttingen zum Ausländer gemacht
Die „ausländische Bevölkerung“ in Göttingen beträgt 2017 18.502 Menschen13: In der Statistik des Göttinger Statistisches Informationssystem (GÖSIS) sind ausländische Studierende, Doppelstaatler und Einwohner mit Migrationshintergrund zusätzlich gezählt.14 Unter „Ausländer“ werden dagegen Asylbewerber, Bürgerkriegs- und Kontingentflüchtlingen verstanden. Eine weitere Statistik kategorisiert nach nationaler Herkunft und zeigt, ,, dass die meisten (angemeldeten) Ausländer und Ausländerinnen in Göttingen aus Europa kommen.“15
Doch nicht nur in der und durch die Statistik wird ein Unterschied zwischen verschiedenen Migrationsbewegungen gemacht. Während sogenannte high skilled Migration und Bildungsmigration, die durch die Universität und von der Stadt gefördert wird, werden andere Mobilitäten und Migrationsbewegungen als Problem gesehen und mehr oder weniger stark reguliert: Der Erwerb der Aufenthaltserlaubnis, der Arbeitserlaubnis und vieles mehr sind nur ein paar von den Hindernissen, die der Staat und die Stadt errichten.
„Ich wohne immer noch in der Europaallee, nachdem sie die Siekhöhe geschlossen hat. Aber in diesem Heim ist es noch schlimmer! Ich wohne da, weil es unmöglich ist in Göttingen eine Wohnung zu finden, wenn man kein Student ist“, erzählt Abdel. Die Siekhöhe ist eine Flüchtlingsunterkunft gewesen, die 2019 aufgrund schlechter Zustände geschlossen wurde. Abdel (Name geändert) kommt aus Algerien, er ist seit 4 Jahren in Deutschland. Seitdem wartet er auf seine Arbeitserlaubnis. Er darf nicht reisen und muss alle 6 Monate seine Aufenthaltsgestattung erneuern. Um nach Deutschland zu gelangen, ist er erst nach Marokko übergesiedelt, hat dort die Zäune der spanischen Enklave in Ceuta überklettert und hat sich im Motorraum einer Fähre versteckt. So erreichte er Malaga, Zaragoza, dann Belgien und Dortmund. Von hier aus wurde er erst nach Braunschweig und dann nach Göttingen verlegt.
Auf die Frage, ob er in Göttingen bleiben möchte, antwortet er überzeugt: „Auf gar keinen Fall! Abends ist die Stadt leer und sehr langweilig. Es gibt nichts zu tun! Und es sollte einfacher sein, die Arbeitserlaubnis zu bekommen, und mit den ganzen Papieren sollte es auch einfacher sein!“ Abdel flieht aus keiner Kriegssituation, er kam hierher, um zu arbeiten und seiner Familie in Algerien zu helfen. Er will ein besseres Leben haben und die Möglichkeit bekommen, sich eine Zukunft aufzubauen. Aber ohne eine Asylanerkennung, ohne Arbeitserlaubnis und ohne Studium überlegt er doch wieder nach Algerien zurückzukehren.
Abdel will eigentlich in Göttingen bleiben. Aber die derzeitige migrationspolitische Gesetzeslage verhindert, dass er sich hier eine Bleibemöglichkeit aufbaut. Sie halten ihm im permanenten Transit gefangen.
Auch Mohamed ist 24 Jahre alt. Er kommt aus Jerusalem und ist direkt mit einem Flugzeug nach Deutschland geflogen. Er ist seit einem Jahr in Göttingen und bereitet sich grade auf die DSH Prüfung vor. Das ist ein Deutschtest, den nicht-deutsche Studenten und Studentinnen bestehen müssen, um sich immatrikulieren zu können. Tatsächlich will Mohamed anfangen, Radiologie zu studieren. Dafür hat er eine Aufenthaltserlaubnis bekommen und einen Deutschkurs bei der VHS besucht. Dennoch beklagt auch er, mit der Bürokratie so seine Schwierigkeiten gehabt zu haben. Doch er ist froh, studieren zu dürfen. Auf die Bleibefrage antwortet er: „Nein, ich will nach Israel zurück. Es ist meine Heimat! Die Lebensqualität ist besser, das Essen ist besser und es gibt mehr Geld. Hier sind die Leute nett, die Stadt ist ruhig und es ist sehr international. Aber es ist zu ruhig, zu langweilig! Alle Läden sind nach 8 (20 Uhr) schon zu!“
Mobilität oder Migration? Göttingen als Transit-Ort
Die Aussage der Befragten als auch die Statistiken zeigen, dass die Zuzüge nach Göttingen meistens nicht von Dauer sind. Es ist vielmehr ein Kommen und Gehen, ob gewollt oder mehr oder weniger erzwungen. Göttingen kann also als Transit-Ort verstanden werden.
Ohne Migration hätte Göttingen ein negatives Bevölkerungssaldo, also zurückgehende Bevölkerungszahlen. Der derzeitig positive Saldo verdankt Göttingen allein dem Faktor Migration. Doch auch dieser positive Saldo nimmt prozentual stetig ab und beeinflusst die Demographie entscheidend. Im Fokus müsste also stehen, städtischerseits mehr Leute zum Bleiben zu bewegen.
Dabei ist Zuwanderung nicht Zuwanderung. Vielmehr wird hier nach Kräften unterschieden; während die eine als Bildungsmobilität gefördert wird, wird die andere als nicht-erwünschte Migration verhindert:
„Der Mobile, das ist der, der privat wie beruflich immer in Bewegung ist, immer den Erfordernissen einer globalisierten Welt entsprechend. Der Migrant dagegen ist der vermutlich bedrohliche Andere, der Fremde, dessen Zuzug man ordnungspolitisch gestalten muss“, so auch Ingeborg Breuer jüngst im Deutschlandfunk (10.04.2014).16
Freizügigkeit gilt nur für die privilegierten Mobilen. Obwohl der Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jedem Menschen das Recht gibt, "sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren." Das Asylgesetzt in Deutschland dagegen zwingt Geflüchtete, in einer Stadt zu wohnen, die sie nicht verlassen dürfen.
Was ist nun aber der Unterschied zwischen Mobilität und Migration? Ab welcher Dauer gilt eine Zuwanderung eigentlich als permanent? In der Forschung bleibt diese Frage offen. Die Experten sind sich darüber sehr uneinig.
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung definiert Migration als Synonym für Wanderung. Darunter wird „im Allgemeinen die auf Dauer angelegte, beziehungsweise dauerhafte werdende räumliche Veränderung des Lebensmittelpunktes einer oder mehrerer Personen verstanden“.17
Die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Migrationen werden vor allem durch die gegebenen migrationspolitischen Sortierungen und Umgangsweisen – eben als Arbeitsmigrant, als Flüchtling, oder Illegaler – getroffen. Hinzu kommen unterschiedliche gesellschaftliche Wertungen. Prof. Markus Ottersbach bemerkt dazu: „Das sind schon die gesellschaftlichen Diskurse, die eben bestimmte Migranten zu hoch qualifizierten Mobilen machen und bestimmte Migranten zu Armutsflüchtlingen. Und diese Differenzierung in den Diskursen, die halten wir für problematisch, weil das im Grunde nicht mehr passt. Warum soll der Armutsflüchtling ein größeres Problem darstellen als der Hochqualifizierte?“ 18
Angesichts des negativen Bevölkerungssaldos in Göttingen ohne den permanenten Zuzug von Menschen aus aller Welt, ist die Frage, ob sich so eine Praxis der Unterscheidung in gewünschte Mobile und unerwünschte Andere noch halten lässt. Dabei scheinen aber auch selbst Bildungsmobile auf zahlreiche bürokratische und kulturelle Hürden in Göttingen zu stoßen, so dass Göttingen für viele ein Transit-Ort bleibt.
Dementsprechend müsste der Stadtslogan also heißen: „Göttingen, die Stadt, die vorübergehend Wissen schafft“, die aber zu wenig dafür tut, um den Menschen die Chance zu geben, anständig in Göttingen ein Leben aufzubauen.