In publica commoda

1.1 Warum und für wen ist Barrierefreiheit notwendig?

Unabhängig davon, ob Lehre im analogen oder digitalen Raum angeboten wird, gilt die gesetzliche Anforderung (siehe 1.2 Gesetzliche Anforderung und Komponenten der Barrierefreiheit bei Videoaufzeichnungen), dass die Inhalte für alle Studierenden zugänglich und nutzbar sein sollen. Dass dies häufig nicht so ist, hängt oft mit impliziten Vorannahmen über Studierende, mit fehlender Reflexion über die Zugänglichkeit der eigenen Lehrmaterialien und nicht zuletzt mit begrenzten Unterstützungsstrukturen zusammen: Viele Lehrende an Universitäten und Hochschulen gehen implizit davon aus, dass die Studierenden im Seminar alle hinreichend gut sehen, hören, sprechen, lesen, sich konzentrieren oder bewegen können. Aus der 21. Sozialerhebung ist bekannt, dass 11% der Studierenden in Deutschland eine studienrelevante Beeinträchtigung haben (vgl. Middendorff et al., 2017: 36).(1) Sich der Heterogenität von Studierenden bewusst zu werden und ihre unterschiedlichen Bedarfe zu kennen, hilft dabei, die eigene Lehre inklusiv zu gestalten und Barrieren abzubauen. Die Möglichkeiten und Grenzen der barrierefreien Lehrgestaltung hängen auch mit der vorhandenen technischen Infrastruktur zusammen. Fehlende Barrierefreiheit in den digitalen Strukturen kann von Lehrenden nicht kurzfristig geändert werden. Jedoch können viele Aspekte, die für Barrierefreiheit notwendig sind, von Lehrenden selbst beeinflusst werden. Barrierefreiheit in der Lehre ist für einige Studierende mit Beeinträchtigungen zwingend erforderlich, um gleichberechtigt Zugang zu den Inhalten zu erhalten – für viele weitere Studierende ist sie ebenso hilfreich.

Die eigene Lehre – und hier im Fokus Lehrvideos – barrierefreier zu gestalten, erfordert einen Perspektivwechsel und eine Neustrukturierung der Vermittlung entlang der Bedarfe aller potentiellen Nutzenden:

  • Taube (2) Menschen können gesprochene lautsprachliche Informationen oder Geräusche nicht auditiv wahrnehmen. Sie benötigen eine Übersetzung in die Gebärdensprache des jeweiligen Landes, d. h. in unserem Fall in die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Ergänzend sind Untertitel (UT) und/oder ein Transkript bereitzustellen.
  • Schwerhörigen Menschen helfen UT und Transkripte, um nicht Gehörtes zu verstehen.
  • Blinde Menschen können visuelle Informationen nicht und sehbeeinträchtigte Personen nur eingeschränkt wahrnehmen. Sie benötigen für visuelle Informationen eine Alternative in lautsprachlicher Form, wie Audiodeskriptionen (AD) oder in barrierefreier Textform, die für einen Screenreader nutzbar ist. Dieser vermittelt Informationen, die auf dem Bildschirm dargestellt werden akustisch über eine Soundkarte oder gibt sie taktil auf einer Braillezeile aus.

Die barrierefreie Gestaltung von Inhalten und Didaktik bringt auch Vorteile für weitere Menschen. Transkripte helfen bspw. bei der Konzentration auf den Inhalt, weil nicht mitgeschrieben werden muss. Darüber hinaus unterstützen sie beim schnellen Überfliegen und bei der Prüfungsvorbereitung. UT sind für alle praktisch, die in geräuschsensiblen Umgebungen lernen oder für Personen, deren Erstsprache nicht der Sprache der Lehrveranstaltung entspricht.

(1) Diese Studierenden stehen im Mittelpunkt der Studie „beeinträchtigt studieren - best2“. Darin gaben nur 4% der Studierenden an, dass ihre Beeinträchtigung für Außenstehende auf Anhieb erkennbar ist.
(2) Die Begriffe „gehörlos“ und „taub“ werden aktuell beide verwendet. Es gibt zu diesen Begriffen unterschiedliche Diskussionen. So gibt es einerseits Personen, die den Begriff „gehörlos“ präferieren, und andererseits Personen, die den Begriff „taub“ bevorzugen. Während der Begriff „gehörlos“ medizinisch am Hördefizit orientiert ist, ist „taub“ eher soziokulturell orientiert. Der diskriminierende Begriff „taubstumm" sollte nicht verwendet werden (vgl. Finkbeiner & Pendzich, 2021).